21.11.2002
Am vergangenen Montag ereignete sich auf der B 81 zwischen dem Vorwerk Emersleben und Kloster Gröningen ein schwerer Verkehrsunfall. Zwei Fahrzeuge waren frontal zusammengestoßen. Obwohl der Unfall bereits um 15.50 Uhr geschah, konnte ein Mann erst nach zweieinhalb Stunden aus seinem Fahrzeug geborgen werden.
Als ich Montagabend vom Einsatz “Schwerer Verkehrsunfall mit eingeklemmten Personen” nach Hause kam, habe ich mir überlegt, was sagst du deinen Kameraden am nächsten Morgen zur Einsatznachbereitung. Wieso hat die Feuerwehr Halberstadt 150 Minuten benötigt um einen Schwerstverletzten aus seinem Autowrack zu befreien? Lag es an der Einsatztaktik, der Anzahl des verfügbaren Personals, dem Ausbildungsstand, der Einsatzerfahrung, oder hat das vorhandene technische Rettungsgerät versagt?
Die Vorgehensweise der Rettungstrupps mit schwerem technischem Gerät ist auf eine einfache Formel gebracht: Fahrzeug sichern – spreizen oder schneiden – Personen befreien. Die Sicherung der Unfallstelle wurde durch die Sperrung der B 81 in beide Richtungen von der Polizei realisiert. Auslaufender Kraftstoff sorgte für eine zusätzliche Gefahr für das Unfallopfer und die eingesetzten Rettungskräfte. Taktisch richtig wurde für den Fall der Fälle die Löschbereitschaft hergestellt. Große Probleme ergaben sich beim Einsatz der hydraulischen Rettungsgeräte. Die technischen Entwicklungen in der Autoindustrie, die vor allem dem Insassenschutz dienen, bereiten im Bedarfsfall den Feuerwehren zunehmend Probleme. Es wird immer schwieriger, mit dem vorhandenen technischen Gerät, schnelle und wirksame Hilfe zu leisten. Seitenaufprallschutz, Airbagsysteme und viele andere ausgeklügelte Neuerungen, besonders aber der Einsatz immer besserer, härterer Materialien führen dazu, dass es zunehmend zu Problemen bei der Befreiung von Verletzten kommt. Trotz einer Spreizkraft von knapp 30 Tonnen war es bei dem verunfallten Fahrzeug nicht mehr möglich, Dachholme und andere Profile problemlos zu trennen. Hält die technische Entwicklung beim Feuerwehrgerät mit der rasanten Entwicklung in fast allen Bereichen unserer Arbeits- und Lebensumwelt mit? Gerade die jüngsten Katastrophenereignisse, ob am 11. September 2001 in den USA oder das Hochwasser in Deutschland, zeigen viele Schwachstellen und Unzulänglichkeiten bei der Ausstattung der Helfer auf. Die Aufgaben, die von den Angehörigen der Feuerwehr bei einem Verkehrsunfall erfüllt werden müssen, sind vielschichtig. Beginnend mit der Beurteilung der vorgefundenen Lage bis hin zum Entschluss, über welchen Weg, mit welchem Gerät die Aufgabe zu realisieren ist. Dabei spielen Fragen der Eigensicherung und der Abstimmung mit den vorklinischen Rettungskräften genauso eine wichtige Rolle wie der effektive Einsatz des technischen Geräts. Dass für solche Aufgaben hochqualifiziertes und motiviertes Personal zur Verfügung stehen muss, erwartet jeder wie selbstverständlich. Auf der einen Seite werden immer mehr Aufgaben auf die Feuerwehren verlagert, auf der anderen Seite haben im Laufe der Jahre die “Erbsenzähler” in den Verwaltungen die Anzahl der berufsmäßigen Feuerwehrangehörigen auf ein Niveau abgesenkt – und damit die Arbeit ernsthaft gefährdet. Auch bei den Ehrenamtlichen zeichnet sich eine dramatische Entwicklung ab. Wenn so mancher Wehrführer ehrlich seinen Personalbestand durchleuchtet, dann ist festzustellen, dass es heute kaum noch Feuerwehren gibt, die ihre geforderte Mindeststärke erreichen. Wenn nicht am Tage einige Rentner oder Vorruheständler in der Gemeinde anwesend wären, dann könnten nicht einmal die Fensterplätze der Löschfahrzeuge besetzt werden. Was ist mit der gesetzlich geforderten Hilfsfrist von zwölf Minuten? Ich bin mir durchaus bewusst, dass sich die Arbeit der Feuerwehr in einem hochsensiblen Bereich befindet. Wer die Feuerwehr in der Öffentlichkeit als nicht ausreichend leistungsfähig bezeichnet, wer Fehlentscheidungen und Schwachpunkte offen anspricht statt zu loben, wer sich kritisch mit technischen Entwicklungen auseinandersetzt, gilt auch in den eigenen Reihen schnell als “Nestbeschmutzer”. Es ist ein Irrglaube, dass eine Feuerwehr jedes erdenkliche Einsatzgeschehen fehlerfrei beherrschen kann. Dazu fehlen uns immer mehr die technischen und personellen Voraussetzungen.
Fazit:
Es ist noch einmal gut gegangen! Dem Unfallopfer hat die lange Rettungszeit, dank der sehr guten medizinischen Versorgung am Unfallort, nicht weiter geschadet. Aber was, wenn es noch viel schlimmer gekommen wäre? Ich wünsche mir bei allen mehr Mut, die vorhandenen Problempunkte anzusprechen. Nur gemeinsam können wir daran arbeiten die Schwachstellen aufzuspüren, zu analysieren und offen darüber zu sprechen.
Harald Böer
Stadtwehrleiter in Halberstadt